Erlebnisse der 2 Jahre am Ende des Krieges


Nach einem Bericht von Bernhard Brahms / aufgeschrieben von Hans-Gerd Wendt

 

 

Es war in den Jahren 1944 und 1945..
Ich lebte damals mit meinen Eltern und meinen Geschwistern in der Zeppelinstraße. Unser Haus war glücklicherweise vom Bombenkrieg unversehrt geblieben. Was nicht heißt, dass wir nicht auch die Schrecken der Fliegeralarme mitgemacht hätten. Im Gegenteil, die Nächte und Stunden im Bunker Wolthusen werde ich nie vergessen. Vor allem den großen Angriff auf Emden am sechsten September.

Es krachte und knallte von überall her, der Betonklotz wackelt und sprang derartig auf und nieder, dass keiner glaubte, da noch lebend heraus zu kommen. Und wenn selbst ich als Kind mir schon beinahe wünschte, es möchte doch schnell gehen und ein großer Brocken auf mich herabfallen und auf der Stelle töten, so kann man sehen, wie unsere Seelen verletzt wurden in dieser Zeit.

Dabei war mir schon früher klar geworden, dass irgendetwas nicht stimmen konnte mit diesem System, das so rücksichtslos mit Menschen umging. Ich war Augenzeuge, als die Synagoge der Emden Juden brannte. So, wie man als neugieriges Kind immer vor Ort ist, wenn etwas Ungewöhnliches geschieht, waren wir hin gelaufen, um den Brand zu sehen. Die Häuser ringsum waren zumeist ebenso von Juden bewohnt, und aus einem Fenster sah eine alte Frau, eine Jüdin, heraus. Uns war der Respekt vor älteren Leuten anerzogen worden, auch vor Juden, die wir zum Teil sogar gut kannten. An diesem Tag aber sah ich, wie verschiedene Menschen plötzlich Backsteine aufnahmen und sie in das Fenster der alten Frau warfen. Ich weiß nicht, ob sie getroffen wurde, aber wenigstens die Scheiben gingen zu Bruch. Gleich dabei stand ein Polizist... aber zu meiner großen Verwunderung griff der nicht ein. Unglaublich! Da kam bei mir schon irgendwie dieses Gefühl auf: Irgendetwas stimmt nicht!

Und dann kam der Tag des 26. Januar 1944. Das war ein Mittwoch. Ich weiß noch, wir Kinder spielten auf der Straße, als plötzlich Adelbert Wilts zu uns stieß. Er war ganz aufgeregt. Adelberts Vater war der Polizeichef in Emden und der hatte wohl mit seiner Frau darüber geredet, man wolle gleich hier bei uns an der Ziegelei fünf Zwangsarbeiter hinrichten.

Dass man Russen in Gewahrsam genommen hatte, war inzwischen überall bekannt. Die noch jugendlichen Männer sollten auf Befehl die Trümmer eines Lebensmittelgeschäftes,
das an der Ecke zur Seumestrasse kurz zuvor von einem Volltreffer zerstört worden war, aufräumen und waren dabei im Kellerbereich auf Spirituosen gestoßen. Nun ist allgemein bekannt, wie schlecht die Zwangsarbeiter mit Lebensmitteln versorgt wurden, und der Fund eines Schnapslagers wird doppelt verhängnisvoll auf sie gewirkt haben. Schon wenige Schlucke dürften sie so betrunken gemacht haben, dass ihr Zustand jedem auffiel. Ihre Bewacher machten dann auch kurzen Prozess und verurteilten sie als Volksschädlinge ohne lange Verhandlung zum Tode.
Und die Vollstreckung sollte hier bei uns, bei "unserer" Ziegelei sein!

Ziegeleistraße

Diese Ziegelfabrik befand sich damals in etwa da, wo heute rechts die Mergelstraße von der immer noch so genannten Ziegeleistraße abbiegt. Ringsum war nur unbebautes Grünland. Der ganze Komplex bestand aus der eigentlichen in der Mitte gelegenen Brennerei und aus zwei seitlich links und rechts parallel zur Straße flankierenden besseren Baracken. Beide Nebengebäude wurden zur Vortrocknung und als Lager für die fertigen Ziegel genutzt. Aus diesem Grunde waren lange Reihen kleiner Fenster in den Wänden offen angebracht, um für einen ständigen Durchzug zu sorgen. Aus mir heute unbekannten Gründen, wahrscheinlich wegen des Krieges, war jedoch die Produktion damals unterbrochen und keine Arbeiter auf dem Gelände.

Wir konnten als Vierzehnjährige nicht wissen, auf was wir uns einließen, als wir ohne lange zu überlegen mit Adelbert zusammen zur Ziegelei hinüberliefen. Die Erregung über ein so ungewöhnliches Schauspiel hatte uns ergriffen. Immerhin waren wir aber vorsichtig genug, in eine der Baracken hinein zu schlüpfen und entlang der Fensterreihen bis an einen in westlicher Richtung gelegenen großen Vorhof zu kommen. Hier lugten wir nun aus guter Deckung heraus auf den Platz.

In einiger Entfernung stand schon ein einfaches Gerüst bereit: Zwei Holzbalken stecken im Abstand von vielleicht fünf Metern im Boden und ragten beinahe die gleiche Strecke hoch. Ein dritter war quer darüber gelegt. Und an ihm sahen wir fünf dünne Stricke oder Drahtseile herunterhängen. Ein leichter Schauder überlief uns Kinder. Wir waren zwar alle durch die menschenverachtende Schule der Nazis gegangen und sollten als Angehörige der Hitlerjugend – der wir uns natürlich nicht hatten entziehen können – nach Ansicht des Führers "hart wie Kruppstahl sein". Wirklich hatte wenigstens ich schon den Tod eines französischen Kriegsgefangenen in unserem Bunker während eines Angriffs erlebt. Der arme Mann war nicht rechtzeitig in die Sicherheit des Betons gelangt und praktisch vor meinen Augen verstorben – aber der Anblick dieser Hinrichtungsstätte war ganz etwas anderes.

 

Doch ehe wir noch unsere Bemerkungen darüber machen konnten, fuhr am Rande des Platzes ein Lastkraftwagen vor. Und plötzlich war da auch eine kleine Abteilung bewaffneter Soldaten in Wehrmachtsuniformen, die junge Männer in grauen wattierten Steppjacken mit einem blauen Schild daran – ich glaube, darauf stand "Ost" - bewachten. Jetzt ging alles ganz schnell, und ich erinnere mich an die Details kaum noch. Der Lkw fuhr mit der Ladepritsche unter das Galgengerüst und die fünf jungen Männer wurden einzeln herangeführt, auf die Ladefläche gehoben und ihnen die Stricke um den Hals gelegt. Das ging beinahe reibungslos, denn die Ukrainer hatten sich augenscheinlich in ihr Schicksal ergeben. Nur der letzte, der kleinste von ihnen - ich sah einen Jungen, nicht viel älter als ich selbst! – wehrte sich heftig. Er wollte nicht laufen! Er schrie nach seiner Mutter und stemmte seine Beine gegen die mit viel Kraft an seinen Armen ziehenden Soldaten. Und einer von denen trat ihm immer wieder in den Rücken und das Hinterteil. Trotzdem kämpfte er mit aller Kraft gegen sein bevorstehendes Ende. Wir hockten wie erstarrt vor unseren Löchern. Ein grenzenloses Mitleid erfasste wohl jeden von uns. Adelbert konnte plötzlich nicht mehr einfach nur zusehen. Er sprang auf und rief so laut er konnte: "Lass ihn doch laufen, lass ihn doch laufen!" Dann brach er in Tränen aus. Wir anderen schnellten sofort hoch und hielten ihm den Mund und die Augen zu, obwohl wir nicht weniger erschüttert waren als er.

Die Soldaten schafften den Kleinen schließlich doch auf den Wagen und unter den Galgen, aber diese Szenen habe ich wohl verdrängt. In unserer Angst, vielleicht selbst entdeckt zu werden, ging die eigentliche Hinrichtung an uns fast vorbei. Das Anfahren des Autos und den Ruck des Erhängens nahmen wir – glücklicherweise – nicht wirklich wahr. Jedenfalls erinnere ich mich kaum daran. Erst, als die fünf Körper leblos an den Seilen hingen, löste sich unsere Erstarrung.

Dass wir das gesehen hatten! Das hätten wir ja gar nicht sehen dürfen!
Diese Bilder verfolgen mich noch heute in meinen Träumen. Immer wieder durchlebe ich die Augenblicke, und immer wieder frage ich mich, ob man nicht hätte einfach dazwischen gehen müssen und rufen: "Ihr seid ja verrückt geworden, ihr könnte die doch nicht einfach aufhängen..!" Aber das hätte bestimmt nichts gebracht... die hätten uns womöglich gleich mit aufgehängt – wer weiß?

Dann wurden die Körper abgeschnitten und fielen auf den Wagen, der wieder darunter gefahren war. Wohin sie anschließend gebracht wurden, weiß ich nicht.

Doch dieses Erlebnis hat mich tief beeindruckt und mein Bild von unserer Welt in den letzten Kriegstagen ziemlich umgeformt.

Die letzte Erkenntnis über die Wirklichkeit des Faschismus kam mir Anfang April 1944.
Damals hatte ich mich per Gestellungsbefehl im Gebäude des ehemaligen Wasser- und Schifffahrtsamtes einzufinden, um Emden und dem ganzen Reich doch noch zum Endsieg zu verhelfen. Mit mir waren etwa dreißig gleichaltrige Jungs zur Stelle. Wir wurden mit viel zu großen Uniformen ausgerüstet, deren Ärmel und Hosenbeine erst aufgekrempelt einigermaßen saßen. Als Gürtel dienten simple Tauenden! Einer von uns, Hinni M., erhielt in Ermangelung einfacherer Uniformen sogar die Jacke eines Unteroffiziers! Der Spaß dabei war, dass Hinni nunmehr von allen Soldaten niederer Ränge – also auch den Altgedienten – mit ausgestrecktem Arm und flacher Hand gegrüßt werden musste! Seit dem Attentat auf Hitler war dieser "Deutsche Gruß" obligatorisch geworden. Wir dagegen haben nur gelacht. Es war der letzte Spaß für uns.

Denn das Wichtigste war der Wehrpass. Mit diesem Dokument waren wir nun endgültig Soldaten mit allen Rechten, besonders aber Pflichten - vor allem der Pflicht, im Zweifel sein Leben auf Befehl lassen zu müssen. Die ganze Einheit nannte sich "Panzerauffangkommando" und rückte sehr bald schon an den Einsatzort aus. Wir wurden mit einem Lastwagen nach Borssum gekarrt und nahmen Quartier in der Schule. Man hatte die Schulbänke hoch aufgestapelt und einfach Stroh in die Räume reingeschmissen. Das sollte unsere "Kaserne" sein. Da lagen wir nebeneinander - in den Klamotten! Das war allen egal, denn die, die den Einsatz befohlen hatten, wussten genau, in den Uniformen kämen wir noch "unter Grund". Wir haben uns auch nicht mehr gewaschen oder sonst wie gepflegt. Aber jedem war schon ein Gewehr und Panzerfäuste zugeteilt. Bis es soweit war, lagerten die Waffen jedoch gesichert in einem Extraraum.

Unser kommandierender Offizier war ein Leutnant, ein ganz sympathischer Kerl, wie es schien. Der Leutnant hatte grauschwarz meliertes Haar und braune Augen. Er machte überhaupt einen süddeutschen Eindruck und mochte um die Mitte dreißig gewesen sein. Dazu trug er einen schicken grauen Ledermantel und auf dem Kopf eine richtige Schirmmütze, kein einfaches Schiffchen, wie man es sonst überall sah. Und er hatte einen Gürtel mit einer Pistolentasche umgeschnallt. Irgendwie mochte ich den Mann sofort. Jedenfalls bis zum ersten Morgenappell...

Gleich in der Frühe mussten wir antreten und durch zählen. Wobei unsere Namen bestimmt nicht bekannt waren, ich glaube, wir waren namentlich überhaupt nicht erfasst worden! Bekannt war nur die Zahl: dreißig Leute, und wenn nur 29 meldeten, dann wusste man, was los war. Strammstehen konnten wir, das hatten wir in der vormilitärischen Ausbildung gelernt. Und dieser Leutnant schritt nun am ersten Morgen unsere Reihe ab. Plötzlich holte er seine Pistole aus dem Halfter und warf die Waffe, während er an uns vorbei schritt, mehrfach aus dem Handgelenk hoch und fing sie wieder auf. Dann sagte er: "Guckt euch dieses Ding genau an! Wenn einer von euch abhaut, den leg ich hiermit eigenhändig um!"
Das hat er wörtlich gesagt.

Und da brach eine Welt in mir zusammen! Ich dachte nur, der legt dich um, wenn du abhaust! Es gab keine Planung für eine Flucht in meinem Kopf. Doch wie fast alle hatte ich eine ungefähre Vorstellung, man würde irgendwie und bald schon ohne große Probleme zurück nach Hause kommen. So ungefähr, als hätte man als Kind ein Räuber- und Gendarmspiel mit ein Paar Kratzern und Beulen überstanden, die anschließend den Geschwistern stolz gezeigt wurden.

Die wenigen Worte unseres Leutnants dagegen brachten mich schlagartig in die Wirklichkeit des Krieges hinein. Es ging um Leben und Tod! Auch um mein Leben oder meinen Tod! Und dieser Mann da in dem grauen Mantel würde ihn befehlen – oder selbst ausführen... was sollte ich nur tun?

Zunächst aber marschierten wir jeden Morgen los an die Landstraße zwischen Borssum und Petkum und hoben links und rechts Schützengräben aus. In die sollten wir dann reinkriechen, wenn die Panzer kamen. Diese Gräben waren wie Haken angelegt, wie Winkelhaken, mit der Spitze in Richtung des zu erwartenden Angriffs. Nur: die Gräben liefen gleich voll! Wenn man da drinnen saß, reichte das Wasser hoch bis an die Knie. Aber die mussten so tief sein zum eigenen Schutz, den eine kleine Mauer oben verstärkte. Doch dann ging's schon los: Die ersten wollten nicht mehr in die Löcher hinein. Die Stellungen wurden nach erfolgtem Ausbau ja verteilt... hier, du musst da rein, du hier usw. ...

Und währenddessen kriegte ich starke Schmerzen in der Brust mit Fieber. Die Nässe und die kalten Apriltemperaturen hatten mich krank gemacht. Das habe ich dann gemeldet. Es wurde Fieber gemessen – auch diese Gerätschaften gehörten zu unserer Ausrüstung - und ich sofort ins Krankenhaus zu Doktor Kessler überwiesen.

Das Krankenhaus war zum Bombenschutz in einem unterirdischen Bunker untergebracht – da, wo heute der Blumenpavillon von Bödeker in der Großen Straße ist. Doktor Kessler hat mich gleich untersucht und eine akute Rippenfellentzündung festgestellt. Ich erhielt von ihm eine direkte Überweisung ins Marinelazarett in der Herrentorschule und sollte trotz meines Fiebers selbst dahin laufen. An einen Krankentransport war überhaupt nicht zu denken.

Und das war mein Glück! Während ich noch ging und während die Fieberschauer durch meinen Körper liefen, kam mir die Idee, zunächst bei unserem Haus in der Zeppelinstraße vorbei zu schauen. Das lag ja fast auf dem Weg.


Aber da fand ich alles verlassen. Meine Zwillingsschwester war inzwischen mit meiner Mutter nach Warsingsfehn gefahren, zu Onkel und Tante - evakuiert – denn es ging ja aufs Letzte! Mein Vater arbeitete bei der Bahn, der kam auch nicht nach Hause. Nur die Katze saß auf ihrem Stammplatz am Fenster, das weiß ich noch, und der Schlüssel lag auf der Fensterbank unter einem Lappen. Da hab ich mich erst einmal hingelegt. Wie ich da so lag – daran kann ich mich noch gut erinnern – da brach das Fieber richtig aus! Mir wurde kalt und heiß, immer abwechselnd. Und zwischen den Schüben überlegte ich, was zu tun wäre. Nur nicht in das Marinelazarett, dachte ich. Die Patienten wurden bei einem Angriff nicht in den Bunker gebracht, die lagen da in den Klassenräumen und hofften, keine Treffer zu erhalten. Zwar hatte man ein rotes Kreuz oben auf das Dach gemalt, aber darauf wurde wenig Rücksicht genommen. Ich dachte nur, wenn du da hin gehst, also dann ist dein Tod sicher... ich wollte weiterleben! Mein Entschluss stand fest: Ich musste dieser ganzen Sache entkommen.


Ich geh zur Mutter... ich geh nach Warsingsfehn! Es gab nur ein Problem: wie dahin kommen? Ich kannte nicht einmal die richtige Straße. Wenn wir die Verwandten besucht hatten, fuhren wir bis Neermoor mit der Bahn. Erst von dort aus hätte ich den Weg selbst finden können. Immerhin stand im Keller noch das Fahrrad meiner Mutter, und wenn ich einfach an den Eisenbahnschienen entlang führe...? Inzwischen hatte die Dämmerung eingesetzt und es wurde schnell dunkel. Ein Umstand, der mir zupass kam. Denn ich war ja Soldat, war offiziell eingezogen und jedes unerlaubte Entfernen von der Truppe galt als Fahnenflucht und wurde unnachgiebig mit dem Tode bestraft. Das wusste ich.

Schon deshalb war es gut, keine offenen Wege zu benutzen, die wurden immer wieder von den "Kettenhunden" kontrolliert. Und Züge fuhren in den letzten Kriegstagen kaum noch. Also nahm ich das Fahrrad machte mich auf. Ich umfuhr weiträumig das Herrentorgebiet und stieß schließlich hinter Borssum auf die Gleise der Bahn nach Leer. Nun ging's immer seitlich der Schotterpiste Richtung Süden. Ich hatte einige Brücken zu überwinden, aber das war einfach. Die Anstrengung und die Aufregung ließen mich das Fieber fast ganz vergessen. Auf halber Strecke erhielt ich sogar Gesellschaft. Ein Emder Mädchen, Dagmar J., hatte den gleichen Weg genommen, auch auf der Flucht vor dem Krieg und den Bomben. Bis Neermoor begleitete mich die junge Frau, und fast hätte es uns noch auf den letzten Metern erwischt. Kaum erschien die Morgenröte, als auch schon ein Tiefflieger auftauchte und auf uns hinabstieß. Wir konnten gerade noch Deckung an einer Schlotkante nehmen. Der Pilot hinter seiner Kanzel war deutlich zu sehen, so nahe kam uns das Flugzeug. Doch es verschwand schnell wieder. Und ohne weitere Probleme erreichte ich endlich Warsingsfehn.

Wer nun denkt, ich würde frohen Herzens aufgenommen, der irrt. Als erstes rief meine Tante: "Nein! Kommt nicht infrage! Du kommst hier nicht rein! Dann worden wi all dodschoten, wenn de een dütse Soldat sehn... und du büst een dütse Soldat! Dann worden wi all dodschoten...!" Und das stimmte! Wenn die eigene Wehrmacht einen versteckten deutschen Soldaten fand, dann ... aber ich trug ja zivil. Ich hatte mich zuhause noch umgezogen, meine Uniform lag unter der Kartoffelkiste im Keller versteckt. Ich hatte kurze Hosen an, meine Hitlerjugendhose oder so etwas... Trotzdem: "Nein nein, das geht nicht, wir werden alle erschossen!" Meine Mutter hat auf den Knien gelegen und sie angefleht: "He is doch noch een Kind!" Und ich fieberte ja!

Schließlich hatte die Tante ein Einsehen! Man bereitete mir am Fehnhaus in einer Scheune im Heu ein Lager ... und da, das weiß ich noch, da war wohl so der Höhepunkt des Fiebers. Ich weiß nicht, ob ich noch etwas zu essen bekam... jedenfalls fühlte ich plötzlich, wie mir die Brust mit einem Einreibemittel eingeschmiert wurde – von der Gemeindeschwester aus Wolthusen! Bei der wir Kinder Gottesdienst gehabt hatten! Und da dachte ich: "Oh guck, jetzt bist du im Himmel!" Weil ich diese Schwester sah, aus der Kirche... so durcheinander war ich. Aber diese Erinnerung ist mir gut im Kopf geblieben.

Eine oder zwei Wochen lag ich so, und während es mir langsam besser ging, kam das Grollen des Kriegslärms näher und näher. Schließlich konnte man die anrückenden kanadischen Panzer deutlich sehen. Wie auf einer Ameisenstraße rückten ihre Ram-Carrier heran, immer einer hinter dem anderen, bestückt mit jeweils einem Maschinengewehr und zehn Soldaten


Ram Cangarooh (Carrier) mit kanadischen Soldaten bei Ochtrup (Quelle: Wikipedia)

Ganz in unserer Nähe – die Fehntiefs hatten alle nur einfache Brücken – ist ein solcher Panzer durchgebrochen. Wir haben anfangs alle noch gejubelt, dass der einknackte. Da fing die Tante aber wieder an, wenn die jetzt kommen, die Kanadier, und finden einen deutschen Soldaten usw. Da bin ich morgens, ganz früh morgens, als alles ein bisschen ruhig war, durch die Wiese gekrochen – auf der anderen Seite wohnte auch eine Tante von mir, Tante Agnete - und die hat mich im Hühnerstall versteckt.

In dem saß ich nun und wartete. Es wurde hell, die Hühner waren inzwischen rausgegangen... ich lag da, wo die Hühner ihre Eier legen sollen, hinter einer Klappe... Da geht die Klappe plötzlich auf und es guckt ein kanadischer Soldat rein! Ich merkte sofort, dass der nicht mehr ganz nüchtern war, der Alkohol war bis zu mir zu riechen, und aus einem Mundwinkel lief ihm der Saft eines Priems über das Kinn.
Der holte mich da raus. Und ich dachte nur, jetzt ist dein letztes Stündlein gekommen, darauf hab ich ja schon lange gewartet, nun ist es gut und Ende.

Aber der Kanadier führte mich zu seinem Offizier! Mit entsicherter Waffe wurde ich vorwärts gestoßen - ich fühle noch heute die Stelle am Rücken, wo der Lauf des Maschinengewehrs eindrückte. Meine damaligen Englischkenntnisse waren zwar nicht sehr groß, trotzdem rief ich laut schon von Weitem: " I am a pupil! I am no soldier…"... und die Tante Agnete, die lief mit einer Schnapsflasche und einem Schnapsglas hinter uns her und wollte mich wohl freikaufen mit einem "Drink". Doch auf einmal dreht sich mein Bewacher um und reißt ihr die ganze Flasche weg! Das war ihr größtes Heiligtum! Und dann hat er mich weitergetrieben zu diesem Feldwebel oder was der war, ein höherer Dienstgrad jedenfalls, denn er stand lässig angelehnt an einem der Panzer...


Tante Agnete konnte darüber ganz genau berichten. Auf ihrem letzten Geburtstag (sie wurde 97!) hat sie das noch erzählt: "Bit Mansens hems di mitnohmen...!" Und dann hat der Offizier, wie ich ihm nun mit Tränen vorgeplärrt habe "I am no Soldier", da hat er zu dem gesagt, der mich hingeschleppt hatte, "Let him fuck off..."
Oh, dachte ich, nun bist du gerettet! Diese Erleichterung fühle ich auch immer noch. Das war der Abschluss.

Aber, wenn man so will, noch nicht der Abschluss des ganzen Geschehens.
Anfang Mai hatte Deutschland kapituliert. Die Briten waren schon längere Zeit in Emden, unter anderem mit einem schottischen Regiment. Etwa zehn Mann standen da oben an der Kesselschleuse auf Wache. Mit unseren wenigen Brocken Englisch suchten wir auch gleich ein Gespräch mit denen... denn plötzlich sah alles ganz anders aus! Vor allem unser tägliches Leben hatte sich verändert! Kein Fliegeralarm mehr nachts, kein Partei, keine Hakenkreuze... das kann man sich heute gar nicht vorstellen: die Nazis hatten so eine Macht, das ging bis ins Letzte. Wolthusen, das Dorf und alle... überall saßen Bauern und Ortsgruppenleiter und die waren alle in der Partei! Und auf einmal war alles aus! Das gab's plötzlich nicht mehr. Das konnte man sich gar nicht vorstellen...

Nur wenige Wochen zuvor im März waren wir noch zur Wehrertüchtigung auf Norderney gewesen. Auf der Insel wurde uns beigebracht, dass, wenn nun ein Abgeschossener mit einem Fallschirm runterkäme, auf einem Sportplatz oder wo... ein Soldat oder Flieger, ein Pilot... dass die versuchen würden, die Kinder für sich einzuspannen! Damit die Kinder sie versteckten... und sie gäben denen etwas dafür! Aber, warnte der Instrukteur uns, die müssten sofort totgestochen werden! Das lernten wir auf Norderney, wie man mit der Mistforke in den Bauch sticht, dahin, wo alles weich ist. Da kommt man am besten durch. Weiter oben, wo die Rippen alle sitzen, das geht nicht so schnell... Dann mussten wir das praktisch üben an Strohballen und rannten die Dinger bis an den Rand rein. Das war im März.

Jetzt standen wir mit eben diesen "Feinden" an der Kesselschleuse und unterhielten uns prächtig! Keiner dachte mehr an Strohballen und Mistforken.
Einer dieser Schotten, er hieß Captain Bill Brown, war Tierarzt. Er interessierte sich dafür, woher wir denn so gut englisch konnten. Wir erklärten ihm, wir hätten während Kinderlandverschickung keine anderen Lehrer außer einer Englischlehrerin gehabt, und die hätte uns nur deutsch und eben englisch beigebracht. Zuletzt lasen wir einen britischen Dichter, Walter Scotts "Ivanhoe", den Roman über einen Ritter, der die Armen unterstützte...

Irgendwann in der nächsten Zeit gingen die Engländer weg, und die Wache an der Kesselschleuse wurde aufgehoben. Langsam vergaß ich Bill Brown und die Schotten, weil die Bewältigung der Zukunft uns alle stark in Anspruch nahm. Denn es wurde Winter und immer kälter und das Brennmaterial wie auch die Verpflegung wurden immer knapper. Mein Vater als Eisenbahner hatte wohl Möglichkeiten und er brachte dann und wann in der Aktentasche ein paar Kohlen mit. Aber meine Mutter hatte immer Angst. "Mensch! Klau bloß keine Kohlen! Dann kommst Du ins Gefängnis!"

So kam Weihnachten 1945.

Das war das beschissenste Weihnachtsfest, das man sich überhaupt denken kann. Nichts zu fressen! Meine Mutter hatte trotzdem noch einen Kuchen gebacken aus Ersatzkaffee, den nannte man Muckefuck... ein Zeugs aus gemahlenen Eicheln. Das wurde getrocknet und daraus Kuchen gemacht. Dazwischen war irgendein Pudding, und woraus sie den gezaubert hat... ein bisschen Mehl und Milch oder was... jedenfalls schmeckte es ganz gut.

Wir saßen gerade im Weihnachtszimmer und aßen den Kuchen, da kommt da plötzlich ein englischer Wagen in die Zeppelinstraße gefahren. Oh Gott, ein englischer Wagen! Nie war ein Fahrzeug der Briten in der Zeppelinstrasse gesehen worden! Alle guckten natürlich aus den Fenstern. Und das Auto hält bei uns vor dem Haus! Ein Verdacht stieg sofort in meiner Mutter auf: "Hast du Kohlen geklaut?" Aber ich war genauso erschrocken wie sie. Doch dann stiegen zwei Engländer aus dem Auto - der eine war Captain Brown!

Die Schotten waren nach Hitzacker verlegt worden und trotzdem hatte der Captain mich nicht vergessen! Er war extra gekommen, um mir als Weihnachtspräsent ein Buch zu schenken: "The young Folks" von Sir Walter Scott! Walter Scott für Jugendliche! Er hat mir sogar mit Bleistift eine Widmung reingeschrieben, und da steht "Weihnachten 1945 - To my dear Friend Bernhard Brahms aus Emden from Bill Brown! In appreciation of many happy hours together. Christmas 1945."


"To my dear Friend..."

Da war der Krieg für mich wirklich aus.

Dazu auch: Zwangsarbeiter in Emden und Liste der toten Zwangsarbeiter

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