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Uphusen

Widerstand war nicht nur eine Frage der Überzeugungen oder der Parteizugehörigkeit. Manchmal kam die Gegnerschaft zum Faschismus auch "aus dem Bauch" heraus, aus den Traditionen der Arbeiterschaft, des Liberalismus oder dem ansonsten vielleicht unpolitischen, aber der Toleranz und dem Frieden zugewandten Elternhause.

Häufig widersetzten sich Menschen auch einfach den Anmaßungen örtlicher Nationalsozialisten, die nicht selten aus ihren eigenen Kreisen kamen, jedoch spätestens mit der Machtübernahme glaubten, Recht und Gesetz wären nur noch für sie da und jede Rücksichtnahme auf Andersdenkende vermissen ließen. Die Auseinandersetzungen von Sozialdemokraten und Kommunisten mit Angehörigen der SA und SS wurden auch deshalb so erbittert geführt, weil Antifaschisten gerade der unteren Schichten immer wieder die Erfahrung machen mussten, dass Richter und Polizei im Zweifel gegen die Linken entschieden. Das war ganz besonders der Fall, als sich der Sieg der Nazis über die Demokratie abzuzeichnen begann.

3. März 1933. Seit etwas mehr als einem Monat ist Hitler Reichskanzler, in zwei Tagen soll der aufgelöste Reichstag neu gewählt werden. Von einer freien Abstimmung kann aber keine Rede sein. Vor vier Tagen hat der Reichstag gebrannt und der Terror gegen Sozialdemokraten und Kommunisten schon begonnen. Auch in Emden wird die Spannung zusehends größer, zeigen die Menschen Nerven.

In Uphusen treffen sich am frühen Nachmittag sechs fast noch Jugendliche aus dem Dorf bei der Gaststätte Bandy. Alle sind eigentlich unpolitische junge Männer im Alter von 19 bis 24 Jahren, einer war kurz Mitglied der KPD gewesen, die anderen stehen wohl eher der SPD nahe. Im Grunde haben sie nur wenig zu tun mit Parteien und deren unterschiedlichen Vorstellungen. Aber alle sind Arbeiter oder entstammen jenem Milieu, mit dem sich die Linke verbunden fühlt.

Uphusen ist ihre Heimat, hier wohnen sie. Hier kennen sie jeden, der mehr als einmal durch das Dorf kommt. Und hier bei der Gastwirtschaft treffen sie sich öfter. Mal stehen sie draußen auf der Straße, mal auch drinnen im Eingang. Wahrscheinlich ist das auch der Ort, wo sie über die Tagesereignisse sprechen, über ihre Arbeitslosigkeit, über die Hoffnungslosigkeit, die mit dem Machtantritt der Nazis nicht besser geworden ist. Heute halten sie sich in der Lohne auf, an der Saaltür, das Wetter ist nicht gut.

Und da sehen sie plötzlich einen SA-Mann kommen. Dieser Nationalsozialist ist ihnen bekannt, er hat seit frühester Jugend nur noch einen Arm und er kommt fast täglich hier mit seinem Fahrrad vorbei, denn er trägt die rechtslastige "Ostfriesische Tageszeitung" aus, die von vielen verächtlich nur "Omas Teezeitung" genannt wird.

Der Mann ist als wirklicher Rechtsradikaler berüchtigt, er hatte schon einmal Kindern, die ihn mit Schneebällen bewarfen, angedroht, sie "über den Haufen zu schießen".

Seit gestern ist dieser Zeitungsbote allerdings Gesprächsthema in dem kleinen Vorort Emdens, am Vortag hatte er sich als politischer Aufpasser betätigt, weil zwei Sozialdemokraten aus Wolthusen trotz des seit dem 21. Februar geltenden Verbotes noch den "Volksboten" der SPD verteilt hatten. Zu deren Schutz waren weitere vier Parteigenossen mitgegangen, alle wussten, dass in die Zeitung ein brisantes Flugblatt eingelegt war, das eindeutig Stellung gegen Hitler bezog. Die kleine Rangelei, die der einarmige Faschist schließlich provozierte, um die Verteilung aufzuhalten, endete in einer handfesten Prügelei weiterer Nazis mit den SPDlern an der Uphuser Kanalbrücke. Dabei fiel dem Einarmigen eine Pistole, eine Schreckschusspistole, wie er selber sagt, aus der Tasche.

Auch der älteste der sechs jungen Männer hatte sich an der Auseinandersetzung beteiligt und vor allem die Waffe des Faschisten bemerkt. In dem Getümmel war jedoch anschließend nicht mehr klar, wo sie blieb.

Über diese Geschehnisse sprach man anderntags in Uphusen und Wolthusen. Der Einarmige war gewarnt worden, man wolle ihm heute bei seinem Botengang auflauern und einen Denkzettel verpassen. In Wolthusen hätten sich etliche Menschen am Spritzenhaus versammelt und würden nur auf ihn warten: "...nimm di in acht, se wölen di verhauen!" Ein solches Risiko will der Mann aber vermeiden, vom Telefon eines befreundeten Kapitäns bittet er deshalb die Emder Polizeiwache, Schutzbeamte zu schicken. In Begleitung von zwei Polizisten und vor allem ohne seine braune SA-Uniform, nur in einen einfachen Mantel gekleidet, setzt er dann seinen Botenweg fort. Er will nicht unnötig auffallen...

Vor der Feuerwehrstation Wolthusen ist wirklich eine feindselig schweigende Menge versammelt, die aber wieder einmal mit ansehen muss, wie ohnmächtig sie ist. Die Staatsgewalt steht den Nazis bei. Bis nach Uphusen begleiten die Beamten den Mann, glauben schließlich alle Gefahr gebannt und verabschieden sich, denn der Bote hat jetzt nur noch einen Bauern hinter der Gaststätte Bandy zu beliefern. Als er das Lokal erreicht, laufen einige Kinder hinter ihm her. Was das denn solle, fragt er in seiner aufgebrachten Art die kleine Schar. Und fröhlich antwortetet ihm einer der Jungs: "Wi wöllt de Klopperei sehn, de nu kummt!" Aufsehend bemerkt der SA-Mann die sechs Jugendlichen an der Saaltür im Durchgang; vor allem erkennt er den 24jährigen wieder, der gestern schon an der Brücke dabei war. Kein Mensch sonst ist zu sehen, und das beunruhigt ihn. Vorsichtig geht er weiter. Doch nichts weiter geschieht. Er schiebt mit seinem Fahrrad vorbei und liefert seine Zeitung ab.

Aber der Rückweg führt ihn wieder an der Gaststätte entlang, und die sechs stehen immer noch da. Vorsichtshalber hält er das Fahrrad nun so, dass es zwischen ihn und die Gruppe kommt. Das ist nicht leicht mit einem Arm, er muss übergreifen. Langsam kommt er näher, und nun schieben sich die Jugendlichen in seinen Weg und bilden einen Halbkreis. Sie mögen ein provozierendes Lächeln gezeigt haben, die jungen Männer, als sie den SA-ler einkreisen. Zwei stellen ihre Füße in die Speichen des Hinterrades. Der Bote kann nicht mehr vorbei.

Was dann geschieht, ist in der Ursache nicht mehr klar nachzuvollziehen. Natürlich widersprachen sich die späteren Aussagen der ungleichen Gegner vor der Polizei - natürlich deshalb, weil der Zeitungsausträger als bekennender Nationalsozialist kein Interesse daran haben konnte, Menschen zu entlasten, in denen er seine politischen Feinde sah, und die darüber hinaus ihn als Krüppel - so sagte er aus - grundlos brutal angegriffen und zusammengeschlagen haben. Die Generalparole der Faschisten lautete damals "Rache". Rache an allen und für alles, das sich nicht von vorne herein ihrem Machtanspruch untergeordnet hatte. Die Schilderungen des weiteren Tatherganges durch die jungen Uphuser allerdings heben eine starke Mitschuld des SA-Mannes bei der Eskalation des Geschehens hervor. Nimmt man alle Zeugenaussagen zusammen ergibt sich folgendes Bild des nun kommenden Zusammenstoßes:

Der SA-Mann steckt fest. "Nu könt ji wat, weil ick alleenig bün", versucht er noch einen Appell an den Gerechtigkeitssinn der Gegner, aber spöttisch fragt der Älteste auf Platt zurück: "Haben sie dir deinen Revolver abgenommen heute nacht?" Vielleicht ist das für den Boten ein Stichwort, oder aber er fühlt sich augenblicklich so sehr bedrängt, dass er in seiner Not ausruft: "Drei Schritte zurück, sonst schieße ich!" und dabei greift er in die Manteltasche. Da fallen alle über ihn her.

Später werden sie übereinstimmend aussagen, in der Hand des Nationalsozialisten wirklich einen Revolver gesehen zu haben, und den wollten sie ihm entwinden, schon zu ihrem eigenen Schutz. Andere Zeugen bestätigen zumindest die Schusswaffenandrohung.

Jedenfalls wird die Rangelei für den Nazi schnell zu einer blutigen Auseinandersetzung, er wehrt sich heftig, wird sogar mit einem Messer attackiert und kommt schließlich zu Fall. In diesem Augenblick wird ein NS-Parteifreund auf die Schlägerei aufmerksam. Er will gerade das Lokal Bandy verlassen, als ein kleiner Junge ihm zuruft: "Sie hauen sich hier!" Kaum ist er um die Ecke, wenden sich einige der jungen Männer schnell dem neuen Gegner zu, ringen ihn zu Boden und schlagen ihn mit seinem eigenen Holzschuh auf den Kopf.

Der Zeitungsbote hat plötzlich Luft und Gelegenheit, zu entkommen. Harte Hände halten seinen Mantel und ihn selbst fest, aber er schlüpft aus dem Ärmel und rennt so schnell er kann an die Ecke des Wirtshauses. Doch da stößt auf das zweite Getümmel. In seiner Verzweiflung ruft er wieder: "Straße frei, ich schieße!" Diesmal wirkt es. "Weg, he schütt!" ruft einer der Angreifer, und blitzartig stieben alle davon. Die zwei Nazis bleiben stark blessiert auf dem Kampfplatz zurück. -

Bereits am 1. April 1933, kaum einen Monat nach der Tat, findet der Prozess gegen die jungen Männer statt. Eine Reihe von Zeugen sagt aus, darunter natürlich auch die geprügelten Nationalsozialisten. Doch während alle Nicht-Nazis und natürlich die Angeklagten den beiden Faschisten zumindest eine Mitverantwortung an der Entwicklung des Streites gaben, betonen der Zeitungsbote und sein Parteifreund eine alleinige Schuld und ein besonders brutales Vorgehen der sechs. Eine Waffe bei sich gehabt zu haben streitet der SA-Mann strikt ab. Das Gericht glaubt den Darstellungen der NSDAP-Mitglieder und schreibt in die Urteilsbegründung: "...Das Verhalten der Angeklagten kann nicht schwer genug geahndet werden.

Milderungsgründe stehen keinem der Angeklagten zur Seite, selbst ihre bisherige Straflosigkeit kann sie vor strengen Strafen nicht schützen. Von solchem Rauditum und Terrorwirtschaft, wie sie die Angeklagten auszuüben belieben, muss die Straße unter allen Umständen freigehalten werden..." Der Jargon entlarvt die Richter: Sie sprechen Recht im Sinne der neuen Herrscher im deutschen Reich. Und so erhalten die Täter Strafen von 1 1/2 Jahren Gefängnis in drei, von acht Monaten in zwei Fällen und einem weiteren Jahr Haft in einem Fall. Zu dieser Zeit heißt das Einweisung zur ("freiwilligen") Zwangsarbeit ins Moor und anschließendes Absitzen der Gefängnisstrafe(*).

Einige Uphuser und Emder Bürger setzen sich nach der Verurteilung für die Bestraften ein und bitten, unter Berücksichtigung eigener, positiver Erfahrungen mit ihnen, den Strafvollzug auszusetzen. Sogar dem SA-Mann selbst schlägt das Gewissen ("...sehe ich als alter SA-Mann nicht ein,(...)dass diese Jungens schwerer bestraft werden sollen, als (andere) vor (der Machtübernahme)...") und er schreibt eine Eingabe, worin er um rückwirkende Milde für die jungen Männer bittet und um Entlassung aus den Mooren. Es bleibt unbekannt, ob mit Erfolg. -

Diese Geschichte kann ein Beispiel sein für die immer wieder erwähnten Auseinandersetzungen und Tätlichkeiten zwischen Linken und Faschisten, auch in Emden, die für den Anfang der dreißiger Jahre so charakteristisch sein sollen. Die Vielschichtigkeit der Gründe, der Ursachen und Personen, der aktuellen Anlässe solcher Streitigkeiten, aber auch die unterschiedliche Wahrnehmung des wirklichen Geschehens wird an dem geschilderten Vorfall deutlich. Der kurze Bericht eines zu der Zeit nicht ungewöhnlichen Ereignisses soll gleichzeitig herausfordern, die Problematik der Gewalt aus anderem Blickwinkeln zu beleuchten. Und dabei vor allem auch die immer wieder leicht übersehene Ungleichbehandlung der Menschen durch die verfolgende Justiz herausstellen, die mit dem Fortdauern des "Dritten Reiches" immer ungerechter wurde.

Und nicht nur da: Denn die ganze Angelegenheit hat auch noch ein Nachspiel im Jahre 1950, als mindestens zwei der seinerzeit Verurteilten eine Einstufung als politisch Verfolgte fordern und zugleich die Annullierung der Vorstrafe. Aber wieder folgt das Landgericht Aurich einzig den Angaben und Argumenten der Angegriffenen. Es übernimmt die Urteilsbegründung von 1933 und reduziert lediglich die Haftstrafe um ein Drittel...

(*)Um Haaresbreite entgeht der Jüngste sogar einer Einweisung in ein wirkliches KZ. Er war seit Anfang Juli im Lager Collrunger Moor des "Freiwilligen Arbeitsdienstes" und sollte Mitte August die Haft in der Strafanstalt Lingen antreten. Der Leiter des Moorlagers wollte ihn aber nicht gehen lassen, ohne dass der Junge Mann eine Erklärung abgegeben hätte, sich für ein zusätzliches Jahr "freiwillig" zum Arbeitsdienst zu melden. Als der das ablehnt, bezichtigt ihn der Lagerleiter der Renitenz und Uneinsichtigkeit und beantragt umgehende "Schutzhaft". Die Auricher Staatsanwaltschaft folgt diesem Antrag und weist ihn "...gemäß der Verordnung (...) zum Schutz von Volk und Staat..." ein. Die von dem Jugendlichen einen Tag später eingereichte schriftliche Erklärung zu dem Vorgang bewirkt aber wohl doch eine Überstellung nach Lingen.