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Die im Folgenden berichteten Ereignisse stehen nicht in einem direkten Zusammenhang zum Widerstand der Emder Linken gegen Hitler und den bald herrschenden Faschismus. Es sind Berichte aus einer Zeit, da die KPD noch der Vorstellung anhing, bald schon alle „reaktionären Kräfte“ überwinden zu können, um selbst eine bedeutendere Rolle zu spielen. Gerade in Emden schien diese Vorstellung realistischer zu sein als das baldige Verbot und der Gang in die Illegalität.

Hans-Gerd Wendt

1.

Aktion Küstenbahndamm

(Versuch einer Zwangsräumung mit Folgen)



Solidarität mit Gesinnungsgenossen, Nachbarn, Freunden, aber auch mit anderen von Not und Elend bedrohten Gruppen wie beispielsweise verarmten Bauern, denen die Zwangsversteigerung drohte, führten in den Jahren der großen Depression und Arbeitslosigkeit Anfang der dreißiger Jahre häufig zu gezielten, manchmal aber auch spontanen Aktionen zur sofortigen Hilfe für die betroffenen Menschen.

In Emden kam es am 2.6.32 im Rahmen einer angesetzten Zwangsräumung zu einer heftigen Auseinandersetzung die fast ein Menschenleben gekostet hätte.

An jenem Tag sollen die Wohnungen der Arbeiterfamilien von Dirk Betten und Johann Ivens, beide am Küstenbahndamm 2, laut Gerichtsbeschluss zwangsgeräumt werden. Für die Familien eine Katastrophe, im Falle der Durchsetzung des ergangenen gerichtlichen Urteils sind sie mit ihrer wenigen Habe und den Kindern obdachlos, bestenfalls das schäbige Dach einer Notunterkunft bleibt ihnen dann. Doch die Gegend ist mit ihrer Nähe zum Hafen ein wirkliches Arbeiterviertel. Die hier Lebenden kennen sich zumeist gut und sind gewohnt, sich gegenseitig bei der Bewältigung der täglichen großen und kleinen Probleme unter Arme zu greifen. Aber auch die KPD soll ihre Mitglieder benachrichtigt und zur Unterstützung der betroffenen Familien aufgerufen haben.

Aus diesem Grunde rückt der Gerichtsvollzieher an jenem Vormittag auch vorsorglich in Begleitung von zwei Zügen Polizei an, also insgesamt 16 (sechzehn) Beamten in zwei Autos, die eine reibungslose Umsetzung des Räumung gewährleisten sollten.

Die ersten Polizeibeamten kommen pünktlich um 10 Uhr in kurzen Abständen mit ihren Wagen angefahren. Als das erste Fahrzeug bei den Rheiderwerken an der Eisenbahnbrücke eintrifft und parkt, warten bereits zahlreiche Menschen auf der Straße. Das Vorauskommando sperrt zunächst die Zugänge zum Küstenbahndamm, so dass Beobachter nur noch aus den Hauseingängen und Wohnungen direkt Einsicht in die weiteren Vorgänge haben. Und von fast allen Fenstern sehen die Anwohner herab. Schon heben verschiedene der an den Ecken abwartenden Leute Steine vom Bahnkörper auf und stecken sie ein. Es ist dicke Luft.

Denn was der Gerichtsvollzieher und die Polizei, aber auch die Demonstranten nicht wissen, ist, dass sich Hausbesitzer und Mieter inzwischen doch noch auf ein Weiterwohnen der Arbeiterfamilien geeinigt haben.

Etwas später kommt auch der Polizeizug "Walter" mit dem Gerichtsbeamten vom Delft her an den Ort des Geschehens. Die Beamten gehen in das Haus.

Die Sache mit der Einigung ist zwar schnell geklärt, es dauert nur zwanzig Minuten, als Polizei, Gerichtsvollzieher, Vermieter und Mieter wieder auf der Straße sind und den mittlerweile etwa 200 versammelten Personen, die an der Ecke Nesserlander Straße zum Küstenbahndamm warten, mitteilen können, dass alles klar wäre und nicht geräumt werden bräuchte.

Die Polizei, der nichts weiter übrig bleibt, als sich in die Wagen zurückzuziehen, will abrücken. Die Menge frohlockt, und der bekannte Kommunist Peter Wörtler gibt ein Zeichen. Die Leute stimmen begeistert die "Internationale" an. Der Druck der „Straße“ hat gewirkt.

Doch dann geht irgend etwas schief. Jene Beamten, die an der Nesserlander Straße den Küstenbahndamm abgesperrt hatten, versuchen nun, die Menge in Richtung Transvaal über den Bahnübergang abzudrängen. Die Polizisten fühlen sich offenbar in ihrer Autorität herausgefordert und fordern die Menge auf, zu gehen. Die Menschen reagieren jedoch nur "zögerlich". Die Leute bleiben, wo sie sind und halten damit gleichzeitig auch den Bahnübergang besetzt. Der Schrankenwärter, der das Geschehen beobachtet, weiß, dass bald ein Zug durchfahren soll. Den Aufruf des Polizeimeisters Dröge an die Menge, weiterzugehen, hört er nicht, er will zurück in seine Bude und nachsehen, ob die Bahn schon kommt.

Zwei weitere Aufrufe an die Demonstranten werden von diesen ebenfalls nicht beachtet. Und als schließlich aus den Fenstern verschiedener Wohnungen Rufe erschallen, die die KPD hochleben lassen und gleichzeitig zum Vorgehen gegen die Polizei auffordern, ziehen die Polizisten ihre Gummiknüppel. Dröge knöpft sich persönlich einen Mann vor, der trotz der ultimativen Aufforderung in aller Ruhe am Bahnwärterhäuschen steht und sich eine Zigarette anfertigen will. "Ich will mir nur eine drehen", meint der Kerl. Als Dröge ihn abdrängen will, steckt der seine Tabaksdose ein, dreht sich dann blitzschnell um und versucht, auf den Polizisten einzuschlagen.

Schnell eskaliert die Situation, mehrere Demonstranten gehen mit bloßen Fäusten auf die Uniformierten los und andere werfen mit Steinen. Auch aus den Fenstern fliegen Wurfgeschosse, später wird festgestellt, dass die Anwohner die Steine schon vorher auf ihren Fensterbänken deponiert hatten.

Schnell hat die Übermacht der revoltierenden Masse die Beamten in die Defensive gedrängt - so sehr, dass dem Polizisten Saathoff nur noch der Griff nach der Waffe bleibt. Es fallen insgesamt 15 Schüsse, wobei später weitestgehend unbekannt bleibt, von wo sonst noch geschossen wurde und wohin.

Der Schrankenwärter hört das Schießen, er kommt aus seiner Bude heraus, eine Kugel zischt an seinem Kopf vorbei. In diesem Augenblick wird er von einem vorbeilaufenden Mann mit einer Drahtrolle angerempelt. Der Mann heißt Freerk Beninga. Kurze Zeit später finden der Seemann Jetses und Lehrer Lentze Beninga vor der Kohlenhandlung Lorbitzki auf der Straße liegend mit einem Steckschuss in der linken Lunge. Lentze und Jetses versorgen notdürftig die Wunde des Angeschossenen und tragen ihn dann hinter der Kohlenhandlung entlang durch die Gemüsegärten über den Viehmarkt in die Wohnung seiner Mutter in der Hansastr.1. Wahrscheinlich wollen sie ihn vor der Polizei schützen, die ihn möglicherweise wegen Widerstandes belangen könnte. Es wird aber schnell deutlich, dass der Angeschossene ärztlicher Hilfe bedarf, und so bringen sie ihn in die Klinik von Dr. Luiken. Er wird erfolgreich behandelt.

Inzwischen hat auch der in Reserve gehaltene und nun eiligst herbeizitierte Polizeizug "Ommen" den Ort des Aufruhrs erreicht und geht gegen die Demonstranten vor. Dazu zeigt der Waffengebrauch Wirkung, die erschrockene Menge läuft auseinander und rettet sich in alle Himmelsrichtungen.


Die ganze Aktion aber hat Nachspiele:


Einen Tag später sind im Schaufenster der KPD-Buchhandlung in der Friedrich-Ebert-Straße, wo sich auch das Parteibüro befindet, ein blutiges Hemd und abgeschossene Kugeln ausgestellt, auf die eine aus der Zeitung ausgeschnittene Hand mit zielender Pistole zeigt. Diese Provokation wird von der Polizei sofort beendet und Hemd und Kugeln beschlagnahmt.

Des weiteren werden erkannte Teilnehmer des "Emder Aufruhrs" vor Gericht gestellt. Gegen sie soll am 2. August verhandelt werden. Die Emder Polizeiführung widerspricht aber diesem Termin, weil "...am 2. August (...) große Auszahlungen vom Arbeitsamt (stattfinden).Es werden jeden Dienstag rund 2.000 Mann abgefertigt. Bei der äußerst angespannten Lage in der Stadt kann es nicht verantwortet werden, an dem betreffenden Auszahlungstage auf die Unterstützung von 12 Beamten zu verzichten...". Denn die Beamten sollen als Zeugen aussagen.

Aber der Termin wird nicht verlegt.

Drei Emder Arbeiter und Seeleute erhalten Freiheitsstrafen zwischen 1 ¼ Jahr und 6 Monaten Gefängnis wegen schweren und einfachen Aufruhrs, vier weitere werden freigesprochen.

Ein weiteres Nachspiel hat die Geschichte im Jahre 1937(!!). Ein Seemann namens Max Donaikowski wird als eine Person erkannt, die an dem Aufruhr beteiligt gewesen sein soll, die Gestapo ermittelt gegen ihn. Was daraus wurde, ist unbekannt.

Alle Angaben, Zeugenaussagen, Zeitungsartikel und das Foto befinden sich im Auricher Staatsarchiv unter REP 109 C 73 Bl. 1- 143ff.